Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation von Nazi-Deutschland. An Rhein und Mosel bot sich ein Bild gewaltiger Zerstörung. Wie hat sich die Region 80 Jahre später entwickelt?
Es ist das Ende. In Mainz mehr als 1.200 Tote beim Bombenhagel am 27. Februar 1945, in Koblenz die Innenstadt zu 87 Prozent zerstört, auf Ludwigshafen fliegen Briten und Amerikaner 124 Angriffe. Die Städte sind Trümmerlandschaften, die Bevölkerung ist in Luftschutzkellern oder aufs Land geflüchtet. Am 8. Mai vor 80 Jahren endet der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs.
Es ist auch ein Anfang. Nach dem Krieg wird Rheinland-Pfalz gegründet. Dazu werden Teile aus den früheren Gebieten der preußischen Rheinprovinz sowie Bayern und Hessen herausgelöst. Ein Bundesland, quasi auferstanden aus Ruinen. Eine doppelte Stunde Null. Nur: Stabilität ist dem Bindestrichland zunächst nicht in die Wiege gelegt. Wie ist das heute, 80 Jahre nach Kriegsende: Hat sich ein Einheitsgefühl entwickelt?
Auferstanden aus Ruinen
„2016 sagten bei einer Umfrage der Zukunftsinitiative Rheinland-Pfalz 77 Prozent, dass Rheinland-Pfalz ihre Heimat sei, 57 Prozent waren stolz, hier zu leben oder geboren zu sein“, sagt der Historiker Prof. Michael Kißener. Mit 1.000 Befragten sei die Erhebung vielleicht nicht extrem repräsentativ. „Aber immerhin“, meint Kißener, „konnten hier Werte ermittelt werden, die bei der Gründung des Landes wohl kaum denkbar gewesen wären.“
Die in der Eifel, dem Hunsrück oder der Pfalz geborenen Befragten hätten sich zu 61 Prozent auch stark mit ihrer Geburtsregion identifiziert. „Das deutet darauf hin, dass die alten regionalen Identitäten nach wie vor bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung eine Rolle spielen.“ Und was hält das „Puzzle“ Rheinland-Pfalz im Inneren zusammen?
„Als integrative Momente haben die Menschen vor allem regionale Traditionen wie die Fastnacht oder Weinfeste erlebt“, sagt der Geschichtsprofessor. Auch kulturelle Veranstaltungen scheinen ein Einheitsgefühl zu erzeugen. „Nicht zuletzt dürfte die Identifikation durch Sportvereine oder Politiker, die auf Bundesebene eine Rolle spielen, sowie durch wirtschaftliche Erfolge befördert werden – zum Beispiel Biontech, Boehringer oder BASF.“
Ein Rheinland-Pfalz-Roman
Vielleicht auch durch das einst in Koblenz produzierte Waschmittel „Rei“? „Mein Großvater hat den Vorläufer des heutigen „Rei in der Tube“ in den 1940er Jahren in St. Ingbert erfunden“, sagt Andreas Wunn, bekannt als Leiter und Moderator von ZDF-Morgenmagazin und ZDF-Mittagsmagazin. Der in Neustadt an der Weinstraße geborene Journalist und Schriftsteller hat ein viel gelobtes Buch über Heimat und Familie geschrieben: „Saubere Zeiten“. Es vermittelt gut Stimmen und Stimmung der Zeit vor 80 Jahren und danach.
Im Roman reist Ich-Erzähler Jakob Auber von Berlin nach Trier, wo sein Vater im Sterben liegt. „Die Wirtschaftswunderzeit war emotional eine hoch ambivalente Zeit“, schildert Wunn. Da sei zum einen der unbedingte Zukunftshunger der Deutschen gewesen. „Das Nach-vorne-Schauen, das Ärmel-Hochkrempeln, die Zuversicht und das Vertrauen auf eine bessere Zukunft.“ Und zum anderen eine große Sprachlosigkeit, eine „Schlussstrichmentalität“ und die Weigerung anzuerkennen, was geschehen war.
Bündnispartner statt Besatzer
„Alles in allem“, sagt Wunn, „eine sehr komplexe emotionale Situation, der jeder anders begegnet ist. Das macht diese Zeit so interessant und einzigartig.“ Er wollte mit „Saubere Zeiten“ auch Leerstellen in seiner Familiengeschichte fiktional auffüllen. „Die Sprachlosigkeit in deutschen Familien über die Verbrechen der Nationalsozialisten beschränkte sich ja nicht nur auf die Tätergeneration“, erzählt der 50-Jährige. Auch Kriegskinder und Kriegsenkel – „also meine Generation“ – seien lange nicht in der Lage gewesen, über das zu sprechen, was passiert war – oder danach zu fragen.
80 Jahre nach Kriegsende ist manches noch zu sehen im Land – der Westwall, die Gedenkstätte SS-Sonderlager/KZ Hinzert -, vieles aber ist verschwunden. Etwa die „Erbfeindschaft“ zu Frankreich. „Sie hat einer „Erbfreundschaft“ Platz gemacht“, sagt der Historiker Kißener. Zwar habe sich das Verhältnis durch jahrzehntelange Kontakte entspannt, aus Besatzern seien Bündnispartner und Freunde geworden. „Doch auch diese Beziehungen gilt es zu pflegen.“
Lehren aus der Katastrophe
Ohne Zweifel herrsche in Rheinland-Pfalz ein hohes Bewusstsein für die besondere Bedeutung des Grenzlandes für gut nachbarschaftliche Beziehungen. „Zumal viele wie selbstverständlich zur Arbeit über die Grenzen pendeln oder bei den US-Streitkräften einen Arbeitsplatz gefunden haben.“
Der Geschichtsprofessor nennt ein Beispiel: „Als der freie Grenzverkehr etwa in Corona-Zeiten oder zum Schutz vor illegaler Einreise eingeschränkt wurde, gab es auf beiden Seiten der Grenze bemerkenswerte Einsprüche der Bevölkerung.“
Wunn zieht aus seiner Beschäftigung mit der damaligen Zeit auch folgende Lehre. „Bei der Aufarbeitung sollte Milde erst mal keine Kategorie sein. Bevor man bewerten kann, muss man wissen, was passiert ist, wer was getan und gewusst hat.“ Es sei wichtig, zu verstehen, wie schnell eine Gesellschaft in den rechten Abgrund driften könne, meint der Autor. „Gerade in der heutigen Zeit.“