In beruflichen Schulen werden Jugendliche fit gemacht für die Arbeitswelt. Aber nicht alle sind willkommen. „Seit zwei Jahren herrscht eine Stimmung der Angst und der Unsicherheit“, sagt ein Theologe.
Ein deutscher Meister im Boxen mit Ausbildungsvertrag in einem Mangelberuf und guten Deutschkenntnissen – der 21 Jahre alte Abdelkader Selmi aus Algerien könnte ein Musterbeispiel für gelungene Integration sein. „Aber stattdessen schicken wir ihn mit einem Damoklesschwert über dem Kopf Richtung Flieger“, sagt Jürgen Reck und schüttelt den Kopf.
Als Schulseelsorger der beruflichen Philipp-Holzmann-Schule in Frankfurt, wo Jugendliche aus ganz Hessen lernen, ist der katholische Theologe seit zehn Jahren Ansprechpartner und Nothelfer für 2.300 Schüler, von denen rund 70 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Seit etwa zwei Jahren beobachtet er „einen tiefgreifenden Wandel des gesellschaftlichen Klimas“.
Von der „Willkommenskultur“ gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern 2015 sei nichts mehr übrig, sagt Reck. „Seit zwei Jahren herrscht hier eine Stimmung der Angst und der Unsicherheit.“ Auch im Alltag außerhalb der Schule sei die tägliche Erfahrung der Schülerinnen und Schüler: „Der Umgang wird rauer.“
„In einer Nacht- und Nebelaktion“ sei vor einigen Wochen ein Mädchen aus Afghanistan von der Polizei abgeholt worden, berichtet Reck. Sie musste mit Mutter und Vater in die Slowakei ausreisen, wo die Familie zuerst Asyl beantragt hatte, zwei Brüder durften in Deutschland bleiben. Die Schule hält bis heute Kontakt zu der ehemaligen Schülerin. „Leider ist das kein Einzelfall“, sagt Reck.
Was den Seelsorger am meisten erschreckt
„Solche Geschichten sprechen sich an der Schule herum. Dann fragen andere: Passiert mir das auch?“ Zu Reck kommen nicht nur Jugendliche, die tatsächlich abgeschoben werden könnten, sondern auch viele, „die Frankfurter sind wie Sie und ich. Die sind hier geboren, Deutsch ist ihre Muttersprache. Die fragen: Muss ich das Land verlassen? Das erschreckt mich am meisten.“
Die Philipp-Holzmann-Schule hat eine Flüchtlings-AG eingerichtet, sechs Kollegen kümmern sich um Fälle wie den von Abdelkader Selmi. Der Algerier hat weitere Fürsprecher: Neben der Schule engagieren sich sein Arbeitgeber – die Südwestdeutsche Rohrleitungsbau GmbH – und Eintracht Frankfurt, wo er in der Ersten Bundesliga boxt. 2023 war er in seiner Gewichtsklasse Deutscher U22-Meister.
Doppelt so viele Eingaben beim Petitionsausschuss
Der Fall liegt nun vor dem Petitionsausschuss des hessischen Landtags. Bis zur Entscheidung ist seine Ausreiseverpflichtung suspendiert. Der Ausschuss kümmert sich um Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern, rund jeder vierte Fall betrifft das Aufenthaltsrecht. 2024 hat sich die Zahl dieser Eingaben im Vergleich zum Vorjahr um rund die Hälfte erhöht – auf 257.
Ausschussvorsitzender Oliver Ulloth (SPD) nennt dafür zwei Gründe: Neben einem Nachholeffekt nach der Corona-Pandemie mache sich der Personalmangel in den Ausländerbehörden „deutlich bemerkbar“. Teils wurde um Unterstützung gebeten, weil Aufenthaltstitel nicht erteilt wurden und eine Kontaktaufnahme mit den zuständigen Stellen nicht möglich war.
Die meisten Petenten, die sich 2024 mit aufenthaltsrechtlichen Anliegen an die Landtagsabgeordneten wandten, sind türkische Staatsangehörige, gefolgt von Menschen aus Marokko und aus dem Irak.
Erfolg hatte beispielsweise ein Hilfesuchender aus Guinea. Er war 2019 eingereist und hatte sich erfolglos um Asyl bemüht. In der Petition verwies er auf seine abgeschlossene Ausbildung im Gastgewerbe und sein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Der Mann bekam eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre und eine Arbeitserlaubnis, wie Ulloth berichtet.
Abschiebebeobachter: „völlig unverständlich“
Auch die Abschiebebeobachter am Frankfurter Flughafen erleben zunehmend Fälle, bei denen sie die Auswahl der Abzuschiebenden nicht nachvollziehen können. Die kirchlichen Beobachter arbeiten im Auftrag von Diakonie und Caritas.
Melisa Ergül-Puopolo ist bereits seit 2016 dabei. „Man versucht, alles abzuschieben, was abgeschoben werden kann, um dem politischen Druck standzuhalten“, sagte die Rechtsanwältin bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts der Abschiebebeobachter im vergangenen Herbst.
Mit Blick auf den Fachkräftemangel findet die Juristin das „völlig unverständlich“. Zum Teil würden Menschen in genau die Länder abgeschoben, in denen Deutschland um Arbeitskräfte werbe.